Blackout
Am nächsten Morgen wurde ich sehr früh wach; heute sollte es zurück in die Schule gehen und ich sollte Liam wieder begegnen.
Unten in der Küche saßen Mum und Dad schon am Tisch, beide mit einer dampfend heißen Tasse vor sich. Meine Mutter war noch in ihrem Bademantel, mein Vater schon komplett angezogen und so gut wie bereit zur Arbeit zu fahren.
»Na, du kleine Schwuppe«, begrüßte mich mein Vater. Erschrocken schaute ich ihm ins Gesicht, doch er fing an zu grinsen und da wusste ich, dass er es locker aufnahm. »Ich freue mich sehr für dich, dass du jemanden gefunden hast, bei dem du glücklich bist.« Das war das Schönste, was mein Vater hätte sagen können.
»Du nimmst es mir also nicht übel, dass ich dir keine Enkelkinder schenken werde?«, fragte ich zögerlich nach.
»Ach was, deine Schwester ist doch auch noch da. Sie wird schon dafür sorgen, schätze ich. Und selbst wenn nicht, dann adoptiert ihr halt Kinder.« Er strahlte mich immer noch an und da wusste ich, dass er mich so akzeptiert, wie ich bin. Nur meine Mutter sah nicht sehr glücklich aus. Sie verfolgte das Gespräch hinter müden Augen und ich sah, dass sie in der Nacht wohl viel geweint haben musste. Ihre Augen waren gerötet und unter ihnen hatten sich starke Augenringe gebildet.
»Und du? Du scheinst nicht sehr glücklich über mein Outing zu sein«, sprach ich meine Mutter an.
»Naja, ich war vollkommen unvorbereitet. Klar hatte ich was geahnt, aber als du es mir gestern so freiheraus erzählt hattest, fragte ich mich schon, ob ich nicht etwas in der Erziehung falsch gemacht haben könnte.« Sie schaute mir nicht in die Augen, aber ich spürte ihre Traurigkeit und den Vorwurf, den sie sich selbst machte.
»Hör auf, du hast nichts verkehrt gemacht. Du hast mich zu einem respektvollen, liebenden und klugen Kerl aufgezogen. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Aber es gibt Dinge, die sucht man sich nicht aus und eins dieser Dinge ist eben die Liebe. Wo die Liebe hinfällt, so heißt doch das Sprichwort. Und ich fühle mich halt zu einem Jungen sehr hingezogen, das ist mir nun bewusst geworden. Ich habe auch mit mir gehadert, aber es nun akzeptiert. Bitte akzeptiere du das auch.«
»Ja, ist gut. Ich akzeptiere dich so wie du bist. Und wenn es heißt, dass du mit einem Mann zusammenkommen wirst, dann ist das eben so.« Endlich schaute sie mir in die Augen und sie versuchte sich an ein Grinsen, schaffte es allerdings nicht. Sie brauchte Zeit, das spürte ich. Sie würde darüber hinwegkommen, irgendwann. Aber sie hatte es akzeptiert und mich nicht verstoßen. Das war alles, was für mich zählte.
In der Schule angekommen, setzte ich mich zunächst in die Aula. Ich war eine halbe Stunde zu früh dran, aber das sollte mich nicht groß stören. So hatte ich genug Zeit meine Mitschüler auszufragen, was ich in den letzten drei Tagen verpasst hatte.
Einer nach dem anderen trudelte so langsam ein und einige machten einen Bogen um mich und setzten sich an einen anderen Tisch. Dann kamen die ersten Mädchen und die schien ich irgendwie beeindruckt zu haben, denn sie setzten sich sofort an meinen Tisch.
Marie, eine sehr großgebaute, aber dennoch liebevolle Person, setzte sich neben mich und zeigte mir ihre Mitschriften. Sie hatte eine für ein Mädchen recht krakelige Schrift, aber ich konnte dennoch lesen, was in den letzten drei Tagen vor sich ging. Wie vermutet hatte ich nicht sonderlich viel verpasst. Das meiste war Wiederholung aus dem Vorjahr. Als ich Marie die Blätter reichte, giggelte sie aus irgendeinem mir nicht verständlichen Grund und wuschelte mir durch die Haare.
»Du bist total süß, weißt du das?«
»Ja, noch vielleicht. Lass mich erstmal in die Pubertät kommen. Dann überlegst du dir deinen Spruch vielleicht nochmal, wenn mir überall Eiterpickel wachsen und meine Stimme den Tisch zum vibrieren bringt.«
»Ha ha, du bist ja so witzig«, lachte sie über meinen Spruch. War ich das? Mir war nicht bewusst, dass ich einen Witz gerissen hatte.
»Hast du dich schon in ein Mädchen verguckt? Vielleicht sogar aus unserer Klasse?« Oh Gott, was sollte diese Frage denn jetzt? Ich schüttelte den Kopf und registrierte erleichtert, dass sich nun Liam zu uns setzte.
»Sorry Mädels, aber wenn ihr nichts dagegen habt, müsste ich euch Jonas mal eben für eine Minute entführen. Es geht um den Vorfall vom Montag.« Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort der Mädchen, sondern schlang direkt seine Hand um meinen Oberarm und zog mich mit sich.
In einer stillen Ecke der Aula hielt er an und ließ mich endlich aus seinem Schraubstock-Griff. Ich rieb mir den Arm, denn zaghaft war Liam nicht gerade mit mir umgesprungen.
»Warum hast du dich nicht gemeldet?«, zischte er mir entgegen.
»Hab ich doch. Ich hab dir eine SMS geschrieben, dass es gestern nicht ging, weil ich mit meiner Mum ins Kino gehen würde«, versuchte ich mich zu verteidigen.
»Dieses distanzierte Ding nennst du eine Antwort? Ich habe dich bestimmt hundertmal angerufen und keinen hast du entgegengenommen. Warum?«
»Es waren 47« – er funkelte mich an – »und außerdem brauchte ich Zeit für mich. Ich habe deine Nachrichten gelesen und auch deine ganzen Entschuldigungen. Ich wollte einfach alleine sein, verstehst du?«
»Mach’ sowas bitte nie wieder. Du siehst ja an Tom, wohin das geführt hat, wenn du dich derart verschließt. Rede mit mir und wir hätten sicher eine Lösung gefunden. So habe ich mir in den letzten zwei Tagen enorme Sorgen gemacht. Ich dachte, ich hätte dich als Freund verloren, verstehst du?«
»Das hast du nicht.« Ich bemerkte, wie er bei diesen Worten aufhorchte. »Du hast mich nicht als Freund verloren und mir ist in den zwei Tagen etwas klar geworden. Der Kuss bei dir Zuhause, der war echt schön. Auch wenn er so kurz war, er war dennoch extrem süß. Und generell deine Art. Du berührst mich mit deinem Charakter und du bist mir enorm ans Herz gewachsen. Du warst die erste Person, der ich mich nach dem Tod meiner Oma geöffnet habe. Du bist zu einer sehr wichtigen Person in meinem Leben geworden und ich glaube, dass ich durchaus mehr Gefühle für dich habe, als nur Freundschaft. Das gestehe ich mir nun ein.« Die letzten Worte flüsterte ich, weil gerade eine Gruppe Achtklässler an uns vorbei ging. Liam zog überrascht die Augenbrauen nach oben.
»Ist das dein Ernst?«, fragte er mich verblüfft.
»Ja, mein voller Ernst.« Und damit zog ich ihn in eine kurze, aber dennoch innige Umarmung.
In diesem Moment bemerkte niemand von uns, wie wir beobachtet wurden.
Die erste Doppelstunde Geschichte tröpfelte nur so dahin. Ich konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren, denn ich musste unentwegt an unsere Umarmung in der Aula denken. Wie schön es war, sich mit Liam ausgesprochen zu haben. Und die Umarmung war so herzlich und weckte in mir wieder dieses Kribbeln, dass ich immer spürte, wenn ich Liam nahe war. Jetzt in der Stunde war ich jedoch darauf bedacht, Liam nicht häufiger zu berühren, als nötig – also gar nicht. Ich spürte immer wieder seinen Blick und beantwortete diesen hin und wieder, doch versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte uns ja nicht direkt in der ersten Woche vor allen Klassenkameraden outen. Auch Sven beobachtete ich hin und wieder, doch dieser versuchte uns strickt zu ignorieren. Auch besser so. Sein Sitznachbar hingegen warf uns immer wieder böse Blicke zu, doch ich grinste ihn nur an. Was sollte er schon groß machen?
Im zweiten Block ging es an Mathematik. Wir bekamen unsere benoteten Stundenaufgaben wieder und wie erwartet hatte ich eine 1. Liam grinste über das ganze Gesicht, als er mir sein Blatt hinhielt: 2+.
»Man, du bist ja ein richtiger Streber«, neckte ich ihn.
»Musst du gerade sagen, mit deiner 1. Dass er dir nicht noch ein Sternchen neben der Note gemalt hat, wundert mich ja ein wenig. Scheinst also nicht sein neuer Lieblingsschüler zu sein.«
»Abwarten.« Ich zwinkerte ihm zu und drehte mich wieder zur Tafel, denn die jetzige Stunde versprach spannend zu werden. Herr Kauder schrieb fett als Stundenthema das Wort „Wurzel“ an die Tafel. Ich merkte einen kleinen Stich, versuchte mich allerdings nicht allzu sehr auf den Nachnamen meiner Oma zu konzentrieren, sondern auf das zweite Wort „ziehen“. Wurzelziehen. Na bitte, geht doch.
Alles in allem verstand ich recht schnell, wie aus einer Zahl die Wurzel gezogen werden konnte und merkte mir direkt alle zweiten Potenzen bis 20. Kinderspiel. Liam musste ich dieses Mal nicht großartig helfen, denn auch er verstand recht schnell, was es mit dem Wurzelziehen auf sich hatte. Aber er nutzte für die Wurzel aus 324 dann doch lieber einen Taschenrechner.
Als auch diese Doppelstunde endlich vorbei war, sollte es zum Sport gehen. Der letzte Block und wir durften noch einmal schwitzen, bevor es ins Wochenende gehen sollte. Auf dem Weg zur Turnhalle liefen wir den Gang zur Eingangshalle hinunter.
»Dreckige Schwuchtel«, zischte es an meinem linken Ohr. Erschrocken fuhr ich in die Richtung, von der ich glaubte, die Stimme wahrgenommen zu haben, doch ich entdeckte die Person nicht mehr. Offenbar wurde sie von der Schülerschar in die entgegengesetzte Richtung getrieben, so wie sie mich zur Aula mitnahm.
Gedankenverloren und mit gesenktem Blick lief ich einfach weiter. Hatte jemand etwas mitbekommen? Hatte jemand die innige Umarmung von Liam und mir bemerkt und sich seinen Teil gedacht? Oder war es Sven, der sich mal wieder einen seiner Späße erlaubte?
Im Sport begannen wir das neue Schuljahr mit der lockeren Aufwärmung durch fünf Runden zügiges Laufen in der Sporthalle und dem ABC-Lauf. Nichts, was wir an meiner alten Schule nicht auch gemacht hatten. Und weil uns Frau Krämer – unsere Sportlehrerin – nicht direkt quälen wollte, durften wir uns Sportarten überlegen, denen wir nachgehen wollten. Viele Jungs entschieden sich für Fußball, der größte Teil der Mädchen für Volleyball. Ich stattdessen zog es vor, zusammen mit Liam Speedminton zu spielen. Sven und Philipp – so hieß sein Sitznachbar, wie ich nun endlich herausgefunden hatte, als Herr Kauder ihn im Matheunterricht aufrief – wählten überraschenderweise auch Badminton und so positionierten sie sich neben uns gegenüber des Netzes.
Speedminton ist ein enorm leistungsbetonter Sport. Man musste ständig auf Zack sein und durch weite oder kurze Schläge den Gegner über das Feld jagen. Ähnlich wie Tennis, nur mit einem kleineren Ball und in einer intensiveren Spielweise. Es war ein heiteres Kopf-an-Kopf-Rennen, denn Liam spielte wahrlich nicht schlecht und war mir ein guter Gegner. Als ein besonders weiter Ball kam, den ich sicher im Aus wähnte, rief Liam mir etwas zu, doch direkt darauf wurde mir schwarz vor Augen.