[05] Das Picknick
»Na da hast du es ja noch gerade rechtzeitig geschafft«, wandte sich meine Mum an mich, kaum dass ich die Wohnungstür hinter mir zuschnappen ließ. »Wie war es?«
Ich fühlte mich ertappt. Hatte sie etwa gesehen, wie er mich so lange umarmt hatte? Nein, das kann nicht sein. Wir wohnten im achten Stock und den Eingang konnte man nur sehen, wenn man sich weit aus dem Fenster lehnte.
»Es war cool. Er wohnt in einer Villa und er hat ein riesiges Zimmer und einen noch größeren Flachbildfernseher und eine PS4 und eine Xbox One und massenhaft Spiele -«, ich kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.
»Na das ist doch großartig, dass ihr euch so gut versteht. Tom hat übrigens angerufen und sich nach dir erkundigt.«
Sofort verdüsterte sich meine Miene.
»Was wollte er?«
»Er hat nur nach dir gefragt. Er wollte wissen, wie es dir geht und ob er dich sprechen könne. Aber ich glaube er fasste es nicht sonderlich gut auf, als ich ihm erzählte, dass du bei einem Freund seist. Ihr beide solltet euch dringend mal aussprechen.«
Ich nickte nur und ging auf mein Zimmer. Tom, den ich hab fallen lassen wie einen nassen Sack Kartoffeln. Dem ich nicht an meiner Gefühlswelt habe teilhaben lassen. Der es immer wieder versuchte, aber nicht an mich herankam. Und dann zogen wir um und ich vertraute mich einem wildfremden Typen an, der es schaffte, in mir ein Gefühl zu erwecken, dass ich zuvor noch nie gefühlt hatte, vor allem nicht bei einem Jungen. Bei dem ich mich geborgen fühlte, bei dem ich das Gefühl hatte, ihm alles erzählen zu können. War das Tom gegenüber gerecht? Wiederum hatte ich bei ihm nie das Gefühl, mich ihm gänzlich anvertrauen zu können. Ja, wir waren sehr gute Freunde. Wir kannten uns seit der ersten Klasse. Auch als ich zwei Klassenstufen übersprang, schadete das unserer Freundschaft nicht. Und doch habe ich ihm nie von der Trauer erzählt, die ich verspürt hatte, als meine Oma gestorben ist. Er war zwar auf der Beerdigung dabei, aber er ging, noch bevor ich irgendetwas hätte sagen können. War unsere Freundschaft da schon zerbrochen? Aber was sollte dann der Anruf heute? Hatte er mich noch nicht gänzlich aufgegeben? Wollte er mir Zeit und Raum lassen, damit ich den ersten Schritt machte? Aber ich machte ihn nie und dann zogen wir um. Er wohnte zwar nur 1,5 Stunden Autofahrt entfernt, und dennoch trennten uns Welten. Und dann trat Liam in meine Welt und ihm vertraute ich mich an. War er nur ein Lückenbüßer für Tom? Hätte ich es Tom nach den zwei Monaten genauso erzählt wie Liam, wenn wir uns heute gesehen hätten? Nein, wahrscheinlich nicht. Tom war nur ein sehr guter Freund, Liam war offensichtlich mehr als das. Und doch wollte ich mir das nicht eingestehen.
Mit wirren Gedanken schlief ich nach einer halben Ewigkeit endlich ein.
»AUFSTEHEN, Schlafmütze. Sonst verschläfst du noch den großartigen Tag, der es heute werden könnte.«
Genervt drehte ich mich auf die Seite, mein Gesicht zur Wand. Ich besaß einen Wecker, also warum musste mich mein Vater mit solch einen Krach aus dem Reich der Träume reißen?
»Hey, wende dich nicht von mir ab. Ich habe gesagt: AUFSTEHEN.«
Ich spürte, wie etwas Schweres meine Matratze nach unten absacken ließ und kurz darauf starke Finger, die mir in die Seite stachen und mich durchkitzelten. Moment, mein Vater tat sowas doch sonst nie.
Panisch wandte ich mich hin und her und wollte dem Griff entfliehen. Ich lachte mir die Seele aus dem Leib, hieb um mich und meine Beine waren auch nicht mehr unter Kontrolle, was zur Folge hatte, dass ich mit meinem rechten Fuß schmerzhaft gegen die Wand trat.
»Auf – hören. Hör – auf, – hab – ich – gesagt. Ist ja gut, ich bin ja wach.« Ich drehte mich wieder auf den Rücken und öffnete meine Augen. Ich erwartete die grünen Augen meines Vaters vor mir zu sehen, stattdessen waren sie haselnussbraun und auch noch nicht durch kleine Fältchen drumherum geziert.
»Ich dachte, ich hole dich mal ab«, sagte Liam und strahlte mir in meine müden Augen. Verwirrt blickte ich zurück.
»Wie kommst du hier rein?« Verstohlen blickte ich zum Fenster in der Erwartung, dass er vielleicht dort hineingelangt sein könnte. Den Blick musste Liam mitbekommen haben, denn er fing an zu lachen.
»Du magst hochbegabt sein, aber offenbar nicht in den frühen Morgenstunden, was? Du wohnst im achten Stockwerk; denkst du wirklich, dass ich bis hier hoch geklettert sein könnte?«
»Hat dich meine Mutter reingelassen, wo sie dich doch nicht ausstehen kann?«, fragte ich verwundert.
»Wer sagt denn, dass sie mich nicht mag? Als ich mich vorstellte, schien sie ganz angetan zu sein. Tja, mein Respekt Älteren gegenüber zog noch jeden in den Bann.« Schelmisch grinste er mich an.
»Das habe ich gehört!«, schallte es aus dem Flur.
»Ich habe uns Brötchen mitgebracht, falls du zuvor noch etwas frühstücken möchtest.«
Ich richtete mich endlich auf und schaute auf meinen Wecker. Dieser zeigte mir in leuchtenden Zahlen an, dass es noch viel zu früh zum Aufstehen sei, zumindest an einem ungewollt freien Tag.
»Hatten wir nicht geplant, dass ich um 14 Uhr zu dir kommen würde?«, fragte ich irritiert.
»Ja, aber da sind dann auch schon Sarah und Tom da. So können wir vorher noch etwas unternehmen, habe ich mir jedenfalls gedacht.«
Immer noch grummelig über die morgendliche Attacke von Liam, stieg ich aus meinem Bett und wollte mich meinem Schlafanzug entledigen, musste allerdings feststellen, dass Liam keinerlei Anstalten machte, aus meinem Zimmer zu gehen. Gebannt verfolgte er die Szenerie, aber mir war nicht wohl bei der ganzen Sache. Ich hatte mich zwar schon vor anderen Jungen entblößt, aber da war ich 12 und es war eine Gemeinschaftsdusche in einer Jugendherberge. Außerdem wusste ich von keinem der anderen Jungen, dass er vielleicht schwul sein könnte. Bei Liam war das anders. Er schien mich mit seinen Augen begierig ausziehen zu wollen und das erweckte in mir das Schamgefühl.
»Es wäre nett, wenn du in die Küche gehen würdest. Ich möchte mich nur schnell fertig machen.«
Enttäuscht über meine Reaktion stand er auf und verließ mein Zimmer. Ich verstand seine Gefühle und machte ihm gleichzeitig den Vorwurf, dass er meine offenbar nicht zur Kenntnis nahm. Für mich war das alles neu, das Kribbeln, die Gefühle einem Jungen gegenüber, seine enorme Anziehung auf mich. Ich musste mir erst einmal selbst über mich klar werden, da waren solche Momente wenig nützlich.
Als ich gewaschen und fertig angezogen die Küche betrat, strahlten mich meine Mutter und Liam vom Esstisch aus freudestrahlend an. Liam schien die Konfrontation eben in meinem Zimmer schon vergessen zu haben und meine Mum war wohl froh, dass ich nun doch endlich jemanden gefunden habe, mit dem ich mich gut verstand.
»Setz dich und iss erstmal was. Liam war so nett und hat uns Brötchen mitgebracht.« Das wusste ich zwar schon, aber ich setzte mich dennoch hin ohne etwas zu sagen. Während ich mir ein Brötchen aufschnitt, spürte ich die Blicke der beiden auf mir ruhen.
»Könntet ihr vielleicht woanders hinschauen? Ihr macht mich nervös«, gab ich entnervt von mir. Was sollte das bitte?
Liam kramte nun sein Handy aus der Tasche und meine Mutter las in der Tageszeitung.
Gerade, als ich von meinem Nutella-Brötchen abbeißen wollte, klingelte mein Handy und ich sah, dass ich eine neue WhatsApp Nachricht bekommen hatte.
Ich öffnete sie und starrte irritiert auf mein angespanntes Gesicht, während ich konzentriert das Brötchen aufschnitt. Darunter stand geschrieben: „Du siehst süß aus, wenn du konzentriert bist.“
Ich steckte mein Handy wieder in die Hosentasche und schenkte Liam einen erbosten Blick. Ich hasste Bilder von mir selbst und dann auch noch der Text dazu. Was dachte er sich dabei? Wollte er es nicht einfach bei einer Freundschaft belassen? Hatten wir uns nicht gestern eigentlich so geeinigt?
Als ich endlich das letzte Stück Brötchen in mein Mund steckte und zufrieden darauf herum kaute, schlug sich Liam auf die Oberschenkel und sprang freudig auf.
»Gut, dann können wir ja nun endlich fahren. Schluck schon runter und dann mach dich fertig.«
Irgendwie konnte ich ihm nicht lange böse sein und so grinste ich nervös zurück.
»Mum, es ist doch in Ordnung für dich, wenn ich etwas mit Liam abhänge, oder?«, fragte ich zaghaft nach.
»Ja, von mir aus. Aber sei heute Abend wieder pünktlich um 21 Uhr Zuhause, hörst du?« Sie schenkte mir ein warmherziges Lächeln und ich sprang nun ebenfalls auf.
»Sehr schön, danke dir.« Ich nahm mein Teller und mein Messer und stellte es in das Spülbecken. Dann gab ich meiner Mum einen Kuss auf die Wange und spurtete ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen.
Als ich endlich fertig war, wartete Liam bereits ungeduldig im Flur auf mich. Ich zog mir Schuhe und Jacke an, verabschiedete mich noch von meiner Mum und ließ die Wohnungstür hinter mir zufallen.
»Also, worauf hast du Lust?«, fragte mich Liam, kaum dass wir den Fahrstuhl betreten hatten.
»Hm, keine Ahnung. Ich dachte, du hättest dir bereits etwas überlegt?!«, gab ich zurück, überfordert mit der Situation. Was sollte man an einem Dienstagmorgen so früh groß anstellen? Außerdem kannte ich mich in Berlin noch nicht so gut aus. Woher hätte ich also wissen sollen, was man hätte machen können?
»Also wenn du Lust hast, könnten wir in den Volkspark Friedrichshain gehen. Da hängen gerade wahrscheinlich nicht so viele Leute ab. Normalerweise ist der immer brechend voll und es wird an allen Ecken und Enden gegrillt und Musik gemacht. Aber wahrscheinlich eher nicht um diese Uhrzeit. Außerdem habe ich einen Picknickkorb dabei, dann könnten wir nachher zum Mittag picknicken. Na, überzeugt?« Er beugte sich leicht zu mir nach unten und schaute belustigt mit seinen rehbraunen Augen in meine. Ich zögerte nicht lange, denn die Idee gefiel mir. Ich kam ja sonst nie aus dem Haus, warum also nicht die Sonnenstrahlen genießen?
»Ja, warum eigentlich nicht. Hast du auch eine Decke dabei?«
»Wo denkst du hin? Natürlich habe ich eine eingesteckt. Was wäre ein Picknick, ohne dabei auf einer Decke im Gras hocken zu können?« Er zwinkerte mir zu und wieder machte sich ein wohliger Schauer in mir breit. Ich nahm den Helm entgegen, den mir Liam entgegenhielt und sprang hinter ihm auf seinen Roller.
Die Fahrt dauerte erstaunlich lange, ständig standen wir an einer roten Ampel und der Verkehr war auch relativ dicht. Berufsverkehr in Berlin, offenbar kein großer Spaß für die Pendler. Ich fragte mich, warum sie nicht einfach auf die öffentlichen Verkehrsmittel wechselten, statt sich den Stress mit den vollen Straßen zu geben. Aber wahrscheinlich war es der gleiche Grund, weshalb Liam so gerne auf seinem Roller unterwegs war. Man war allein, hatte nur sich und seine Musik und musste den Wagen nicht mit erkälteten Pendlern teilen, die sich nah an dich schmiegten. Gerade in der Sommerzeit war das wohl alles andere als angenehm.
Endlich schienen wir unser Ziel erreicht zu haben, denn Liam steuerte auf ein Fleckchen Bürgersteig zu und wurde prompt von einem rüstigen Herrn angefaucht. Dass der Bürgersteig für Fußgänger gedacht sei und nicht für junge Rowdys auf ihren Mopeds. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, was dem Herrn nur noch mehr die Zornesröte ins Gesicht stiegen ließ. Meckernd über die heutige Jugend zeterte er weiter vor sich hin und humpelte davon.
»Herzlich willkommen in Berlin. Hier wirst du an jeder Straßenecke vollgemotzt und angepampt«, sagte Liam an mich gerichtet und ich konnte nun nicht mehr an mich halten und lachte schallend, sodass sich einige Passanten verwirrt umblickten.
»Ja, danke. Aber das habe ich auch schon gemerkt.« Ich zwinkerte ihm zu und stieg etwas breitbeinig vom Roller ab.
Nachdem Liam einen Korb und eine Decke aus seinem Roller holte, ließ ich meinen Helm hineinfallen und war versucht, ihm den Korb abzunehmen.
»Lass mal gut sein, Kleiner. Der ist zu schwer für dich. Du kannst die Decke nehmen.« Schelmisch grinste er mich an, wohl wissend, was nun von mir kommen würde.
»Nenn’ mich gefälligst nicht Kleiner und so schwach bin ich gar nicht. Also, her damit!«, forderte ich ihn auf und entriss ihm den Korb. Doch der war schwerer als gedacht und überrascht stolperte ich vorwärts.
»Na sag ich doch«, erwiderte er und nahm mir den Korb wieder ab. Entrüstet krallte ich mir die Decke und ging voran.
»Hey, wo willst du hin? Hier geht es zum Eingang«, warf er mir hinterher und wütend drehte ich mich wieder um. Feixend über meinen Gesichtsausdruck war es nun an Liam schallend loszulachen und erneut alle Blicke der Passanten auf sich zu ziehen. »Du solltest dich mal sehen, wie du hier auf bockig machst. Ein Bild für die Götter.« Somit drehte er sich um und lief mir immer noch von einigen Lachern geschüttelt voraus.
Immer noch etwas bockig folgte ich ihm und unweit des Eingangs ließ er den Picknickkorb auf einem Fleckchen Rasen nieder.
»Hier ist es doch ganz schön. Die Sonne kann uns anstrahlen und wenn es uns zu heiß wird, können wir uns immer noch in den Schatten der Eiche dort flüchten.« Recht hatte er. Der Platz war tatsächlich ganz angenehm. Der Lärm der Straße war beinahe abgedämpft und wir hatten es nicht allzu weit zu den Toilettenhäusern.
Wir breiteten die Decke aus und ließen uns darauf nieder.
»Sag mal Liam, wie kommt es eigentlich, dass ihr euch nicht mehr versteht, du und Sven?« Interessiert stützte ich mich auf meinen linken Ellenbogen und schaute von oben herab in sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen und die Arme hinter seinem Kopf verschränkt.
»Wir waren bis zur sechsten Klasse beste Freunde. Wir kennen uns schon seit dem Sandkasten, musst du wissen. Aber dann spürte ich, dass ich anders war, dass ich anders empfand. Dass ich Mädchen nicht anziehend fand, sondern Jungen. Ich dachte, ich könnte Sven alles erzählen, wir waren doch so unglaublich gute Freunde. Doch als ich ihm eröffnete, dass ich schwul sei, ist der komplett ausgerastet. Er hält Schwulsein für eine Abnormität und ist dem ganzen Thema gegenüber sehr intolerant. Ich weiß nicht, warum er sich so verhielt und ich wurde sehr traurig. Seitdem war unsere Freundschaft zerbrochen und wir erklärte Feinde.«
»Oh man, das tut mir so leid für euch. Was hattest du gestern eigentlich gemeint, als du ihn an den Vorfall in der sechsten Klasse erinnert hattest?«
»Hm, das. Daran erinnerst du dich? Dein Gedächtnis möchte ich haben. Naja, es ist damals etwas auf der Klassenfahrt vorgefallen, dass ihm sehr peinlich gewesen war und es offensichtlich immer noch ist. Ich hatte ihm versprochen, niemandem etwas darüber zu sagen, aber das war noch vor meinem ComingOut vor ihm. Seit dem drohe ich ihm immer wieder mit dem Vorfall, wenn er sich mies mir gegenüber verhält.«
»Und du hast es bisher wirklich noch niemandem erzählt?«
»Kein Sterbenswörtchen«, antwortete er und schaute träumend in den Himmel. Auch ich legte mich wieder auf den Rücken und verfolgte die Wolken mit meinen Augen.
»Schau mal, die Wolke sieht doch irgendwie aus wie ein Hase, findest du nicht?« Er streckte seinen Arm senkrecht nach oben und deutete auf ein Wolkengebilde, das für mich eher wie ein Haufen weißer Rauchschwaden aussah. »Und da, ein kleiner Indianer mit Pfeil und Bogen. Der hat irgendwie Ähnlichkeit mit dir.« Wieder zeigte er auf ein Wolkengebilde, aber ich sah darin absolut gar nichts.
»Du hast ja eine rege Fantasie«, stachelte ich ihn auf.
»Stell dir einfach etwas vor, einen Politiker zum Beispiel oder einen Bär und meist erkennst du das sofort in den Wolken. Probier es mal aus.«
Ich kniff die Augen zusammen und dachte an nichts Bestimmtes, aber als ich die Augen wieder öffnete, schaute meine Oma mit ihrem stolzen Lächeln auf uns herab. Sie wusste, dass ich sie nie vergessen würde und war gleichzeitig so stolz, dass ich endlich weiterlebte.
»Und, was siehst du?«, fragte mich Liam.
»Das bleibt mein Geheimnis«, erwiderte ich und wischte mir unbemerkt von Liam eine kleine Träne von der Wange. Danke Oma, dass du mir diesen wundervollen Freund vorbei geschickt hast.
Wir lagen noch lange so da und nach ungefähr einer Stunde rafften wir uns endlich auf und spielten einige Runden „Uno“. Er hatte doch tatsächlich in seinem Korb ein Deck „Uno“-Karten dabei. Was er wohl noch alles mitschleppte? Es müssten wohl auch Backsteine darin liegen, so schwer wie der Korb war. Oder vielleicht Hanteln?
Wir zankten uns ein wenig um die Regeln, denn ich hatte eher Lust auf die offiziellen Regeln, aber Liam wollte bei einer 0 und 7 die Karten tauschen. Wir einigten uns darauf, dass man auf eine +4 Karte keine +2 Karte legen konnte und umgekehrt und dass die Karten nur bei einer 7 getauscht werden mussten.
Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich herzhaft zu lachen begann, als Liam einen Wutanfall vortäuschte, wenn er verlor oder ich ihn darauf hinwies, dass er nur noch eine Karte in der Hand hielt und nicht „Uno“ gesagt hatte. Am Ende einigten wir uns auf ein Unentschieden, auch wenn ich haushoch gewonnen hätte, aber ich hatte nicht vor, Liam die Laune zu verderben.
Nachdem wir die Karten wieder zusammengeräumt hatten, holte er nun seine Nintendo Switch aus dem Korb. Hatte Liam den mit einem unaufspürbaren Ausdehnungszauber belegt, wie Hermine bei ihrem Handtasche im letzten Harry Potter Teil? Ich war verblüfft, was er dort alles herauszog und Essen sollte schließlich auch noch darin liegen.
Er klappte den kleinen Ministänder am Geräterücken raus und stellte die Switch vor uns auf. Dann gab er mir einen Controller und er startete „Mario Kart“. Ich kannte das Spiel, war aber nie gut darin. Hier konnte Liam endlich zeigen, wer der Bessere war und er zog mich gnadenlos ab. In den ersten Runden schafften es sogar die KI-Gegenspieler, mich zu überrunden, doch ich wurde von Strecke zu Strecke besser und war nur noch hauchdünn zweiter. Ich schaute mir ein paar Tricks von Liam ab, wie das Driften in den Kurven und das Drücken der A-Taste bei der Zahl 2, um schnell vom Start loszustarten.
Alles in allem war es ein gelungener Vormittag und mit der letzten Runde fing mein Magen an zu rebellieren.
»Wenn ich nicht langsam etwas zu Essen bekomme, könnten unaussprechliche Dinge geschehen«, meinte ich zu Liam und tätschelte mir meinen Bauch.
»Alles klar, kommt sofort«, antwortete Liam grinsend über meinen Witz. Er steckte die Spielekonsole wieder ein und machte sich schnell daran, Besteck und Pappteller vor uns auszubreiten. Dann holte er Schüssel um Schüssel aus dem Korb und zum Vorschein kamen Buletten und Kartoffelsalat, Wiener und Nudelsalat, Hähnchennuggets und Gurkensalat. Ich staunte nicht schlecht und machte mir nach und nach von jeder Speise etwas auf den Teller.
»Wü üft deine Fröindin eigenlüch so?«, fragte ich Liam mit vollem Mund. Der schaute verwirrt, aber auch belustigt.
»Nimm am besten noch etwas in den Mund, dann verstehe ich dich besser.« Ich kaute noch etwas und schluckte dann endlich das Stück Bulette herunter.
»Ich fragte, wie deine Freundin eigentlich so ist? Die, die nachher zu dir kommt. Weiß sie von – naja, du weißt schon – dass du schwul bist und so?«
»Ja klar, sie ist schon lange eingeweiht und sie hat damit absolut kein Problem. Sarah ist selbst lesbisch und geht deswegen absolut cool damit um.«
»Ah okay, cool. Und dein Cousin?«
»Er auch. Der ist absolut cool drauf, du wirst ihn mögen«, versprach mir Liam
»Und wissen sie, dass ich dabei sein werde?«
»Nö, ich hatte sie noch vor deinem Besuch gestern zu mir eingeladen. Aber keine Sorge, sie werden dich schon mögen. Ansonsten werde ich dafür sorgen«, antwortete er mit einem Zwinkern.
Wir aßen beinahe alles auf und verstauten so langsam alles wieder in die Körbe. Als es langsam anfing zu nieseln, räumten wir auch schnell die Decke zusammen und eilten zum Roller. Wir machten uns auf zu Liam und dankenswerterweise war der Verkehr nun abgeflaut, sodass wir gut durchkamen. Nach 30 Minuten bogen wir wieder in die Villengegend und auf sein Grundstück. Erst jetzt entdeckte ich hier und da ein paar Leute an den Hecken schnippeln und den Rasen mähen. Offenbar Bedienstete, wie cool.
Angekommen machten wir es uns auf dem Bett von Liam gemütlich. Er schaltete den Fernseher ein und ließ irgendetwas aus dem Nachmittagsprogramm laufen, aber ich achtete nicht auf die Sendung. Ich lag einfach nur da, mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke, die in einem dunkelblau gestrichen war und ein Meer an Sternen und Sternenbildern zeigte. Das war mir gestern noch gar nicht aufgefallen, aber ich fand es direkt schön.
»Die Sterne leuchten abends sogar, wenn das Licht aus ist. Fluoreszierende Farbe. Kann ich dir ja irgendwann mal zeigen, wenn du mal bei mir übernachtest oder so.«
Übernachten? Hatte ich das gerade richtig verstanden? Er lud mich indirekt zu einer Übernachtungsparty ein?
»Nur wenn du willst, natürlich.« Er musste mal wieder meine Panik im Gesicht bemerkt haben.
Wir lauschten den Klängen der RTL-Sendung und warteten auf das Eintreffen der Beiden, die sich zu 15 Uhr angekündigt hatten.
Die erste, die um fünf nach drei aufkreuzte, war Sarah. Sie fiel Liam in der Eingangshalle direkt um den Hals und drückte sogar mich mit einer herzlichen Umarmung. Ich fand sie direkt sehr sympathisch.
Noch bevor sich Sarah komplett entkleiden konnte, klingelte es erneut an der Haustür und Liam öffnete das Tor. Zwei Minuten später klopfte es an der Haustür und Liam zog sie schwungvoll auf.
»Du?!«
»DU?!«