Hoffnung
Die nächsten Tage verliefen nicht besser. In der Schule wurden wir größtenteils in Frieden gelassen und selbst Sven wagte es nicht, seine dummen Sprüche zu reißen. Mit roten Augen ließen wir die Unterrichtsstunden an uns vorbeiziehen und achteten nicht sonderlich auf den Inhalt. Die Sportstunden machten wir nicht mit.
An einem verregneten Mittwoch – wir hingen wieder an unserem Stammplatz, der Tischtennisplatte, herum – gesellte sich Sven und Philipp zu uns. Sie schauten uns beide in die Augen und Sven fing an zu reden.
»Hey, Liam, Jonas. Es tut mir – es tut uns – so leid, was mit eurem Freund passiert ist. Und es tut mir auch leid, was ich euch an den Kopf geworfen habe. Es war nicht in Ordnung, euch als Schwuchteln und Tunten zu beleidigen.«
»Und da bedarf es erst ein Tod eines Freundes, dass du das einsiehst, Sven? Sorry, aber dein geheucheltes Mitleid und deine Entschuldigung kannst du dir sonst wo hinstecken«, fuhr ihn Liam an.
Sven und Philipp machten auf dem Absatz kehrt und ich konnte kurz etwas wie Enttäuschung in Svens Gesicht ablesen. Ob er sich gewünscht hatte, wieder Liams Freund werden zu können?
»Weißt du, was cool wäre?« Verständnislos schaute ich Liam an. »Wenn wir dem ganzen Haufen hier wirklich was zum Reden geben würden. Was sagst du dazu? Wir outen uns bei allen als Paar?«
»Ähm, hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Klar, was soll schon groß passieren? Von mir ahnen eh die meisten, dass ich schwul bin und du bist dann halt auch geoutet. Und noch haben wir den Freifahrtsschein, den uns Tom mit seinem Ableben geschenkt hat. Keiner würde uns auch nur ein Haar krümmen, weil wir ja die trauernden Typen sind.«
Ich hielt nicht sonderlich viel von der Idee, aber ich ließ ihn weiter planen. Morgen würde er feststellen, dass die Idee einfach nur bekloppt war und sie fallen lassen. Hoffte ich jedenfalls.
Am darauffolgenden Tag setzten wir uns in den Unterricht von Frau Morel. Mal wieder Französisch, mein erklärtes Hassfach. Englisch ging ja noch, aber mit Französisch konnte ich nicht viel anfangen. Ich schwor mir, das Fach abzuwählen, sobald ich konnte.
Ich spürte Liam neben mir etwas hibbelig auf seinem Stuhl sitzen. Er wackelte mit seinem Bein und klopfte mit den Fingern auf den Tisch. Was war los mit ihm? Hatte er einen Überschuss an Koffein?
Als Frau Morel vor die Klasse trat, stand Liam auf und geschockt schaute ich ihn an. Er ignorierte jedoch meinen Blick und ging nach vorn. Wollte er das nun doch durchziehen? Ich fing an zu zittern, da postierte er sich vor die Klasse und ließ Frau Morel mit einer erhobenen Hand verstummen.
»Wie ihr wisst, ist vor Kurzem ein Familienmitglied von mir und ein sehr guter Freund von Jonas verstorben. Vergewaltigung und brutal ermordet, mit 42 Messerstichen. Der zwölfte nahm ihn das Leben und doch hieb der Mörder immer wieder auf ihn ein.« Alle Blicke lagen gebannt auf Liams Gesicht, keiner wagte etwas zu sagen. Eine unheimliche Stille breitete sich im Klassenraum aus, bei der man durchaus eine Nadel hätte fallen hören können. »Es war eine feige Tat und der Täter sitzt nun hinter Gittern.«
Er holte kurz Luft und ließ die Worte ihre Wirkung entfalten.
»Da kam mir gestern der Gedanke, wie wichtig es ist, jeden Tag so zu leben, wie er kommt. Es könnte der letzte sein. Ich stellte mir die Frage, welch wichtige Rolle die Liebe, die Geborgenheit, das Vertrauen in unserem Leben spielt. Tom -«, er hielt kurz an, um Luft zu holen, »war sich seiner Gefühle unsicher. Er war noch so jung und hatte in sich gespürt, dass er anders war. Doch er wollte sich niemandem anvertrauen, weshalb er weggerannt ist, geradewegs in die Hände seines Mörders. Ich bin auch anders und doch so normal. Viele von euch wissen, dass ich schwul bin und die, die es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, wissen es nun. Und ich habe meine große Liebe gefunden.«
Oh Gott, du meine Güte. Jetzt würde er es tun. Er würde mich outen und vor der gesammelten Klasse als sein Freund vorstellen. Ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn sammelte und wie ich plötzlich nasse Hände bekam.
»Ich sage nur so viel: Er geht auf diese Schule und nein, es ist weder Sven noch Philipp.« Die gesamte Klasse lachte, selbst Sven ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. »Aber ich denke, dass er noch nicht so weit ist. Er akzeptiert seine Gefühle, er akzeptiert sich. Aber er akzeptiert den eventuellen Hass und die Intoleranz nicht, die ihm übermannen könnten. Daher dürft ihr gern spekulieren, wer es ist, ich halte schön meine Klappe.« Einige Sekunden war es still, dann toste der Beifall. Die gesamte Klasse bewunderte ihn plötzlich für diesen Mut und seine Worte hatten alle berührt. Einige Mädchen hatten Tränen vergießen müssen und auch bei ein paar Jungen vernahm ich gerötete Augen. Frau Morel hielt sich ein Taschentuch an die Augen und schniefte dann lautstark hinein.
»Das war sehr rührend, Liam. Danke dir für deine herzerwärmenden Worte. Du darfst dich nun wieder setzen.«
Doch das tat er nicht. Er blieb regungslos stehen, weil ich mich plötzlich erhoben hatte. Ich war ihm tausendfach dankbar, dass er mich nicht geoutet hatte. Ich wollte es selbst in der Hand haben und ich wollte es jetzt tun.
Langsam ging ich durch die Reihe der Pulte in der Mitte und am Fenster. Der Weg kam mir unendlich lang vor, wie in einem Traum, in dem man nie das Ende erreichte. Man lief immer weiter. Doch ich schaffte es nach einer gefühlten Ewigkeit nach vorn und positionierte mich direkt neben Liam. Alle Augen waren auf mich gerichtet.
»Vor knapp drei Monaten verstarb meine Oma. Für mich brach eine Welt zusammen. Sie war mir die liebste Person, neben meinen Eltern und meiner Schwester. Sie war mir heilig. Dann erwischte sie der Krebs und sie starb, ohne dass ich mich von ihr verabschieden konnte. Ich machte mir Vorwürfe, hätte ich weniger Zeit mit der Schule verbracht, hätte ich sie häufiger im Krankenhaus besuchen können und hätte es bemerkt. Sie hätte mir Lebewohl sagen können. Ich hätte mich verabschieden können. Das habe ich nicht. Ich stürzte in ein tiefes Loch und wies alle Freunde von mir. Auch Tom, mein bester Freund. Er war am Boden zerstört, dass ich nicht mit ihm redete. Er hatte die Vermutung, dass ich ihm nicht genug vertraute. Dann zwei Monate später, trat Liam in mein Leben und ihm vertraute ich. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und heulte mich bei ihm aus. Dafür war ich ihm enorm dankbar. Dafür, dass er ein offenes Ohr hatte. Ich fühlte mich sicher in seiner Gegenwart. Ich fühlte mich geborgen. Und dann verstarb mein Freund Tom und wieder brach eine Welt für mich zusammen. Aber dieses Mal hatte ich jemanden, an dem ich mich festhalten konnte. Dem ich meine Sorgen, meine Ängste, meine Trauer anvertrauen konnte. Liam fing mich auf, genauso wie ich ihn auffing. Das schweißte uns enorm zusammen. Nicht nur als sehr gute Freunde. Es ist mehr als das. Ich hatte mich in ihn verliebt und Liam auch in mich.« Ich schaute in die verblüfften Gesichter meiner Mitschüler. »So, wie war das mit dem „er ist noch nicht so weit“?«, fragte ich Liam und drehte mein Gesicht zu seinem. Er grinste mich verlegen an und dann brach wieder ein Beifall aus, dieses mal sogar noch tosender. Angeführt wurde dieser von Sven, der auch als letztes aufhörte zu klatschen.
»Das war extrem mutig von dir«, flüsterte mir Liam ins Ohr und ich strahlte über das ganze Gesicht.
»Danke, von dir aber auch«, gab ich zurück.
Frau Morel stand nun leicht wankend auf und kam auf uns zu. Sie zerrte uns beide in eine innige Umarmung, die wir leicht verwirrt mit einem Tätscheln ihres Rückens erwiderten.
Zurück Zuhause saßen wir feixend auf meinem Bett. Wir waren erfreut über die gute Reaktion unserer Mitschüler. Die Mädchen konnten bei mir nun nicht mehr landen, aber das schien sie nicht wirklich zu stören. Nun wollten sie mich halt als ihren schwulen, besten Freund gewinnen.
»Du bist mir übrigens noch ein paar Antworten schuldig«, sagte ich an Liam gerichtet.
»Ach ja?«, erwiderte er mit hochgezogener Augenbraue.
»Ja. Was ist damals in der sechsten Klasse passiert. Was ist Sven zu peinlich, dass er immer noch so rot wie eine Tomate wird, wenn du den Vorfall erwähnst.«
»Ach das. Du versprichst mir, es niemandem weiterzusagen?«
»Ja sicher, deine Geheimnisse sind meine Geheimnisse«, versprach ich ihm.
»Also. Es war der vorletzte Tag der Klassenfahrt. Wir hatten ziemlich viel Zeit im Wasser verbracht und uns gut amüsiert. In der Nacht lagen wir halb tot in unseren Betten. Am Morgen darauf war das Bett von Sven komplett nass. Zum Glück lag er unten«, schloss er mit einem süffisanten Lächeln.
»Das also ist ihm so unendlich peinlich? Mein Gott, ist das nicht jedem mal als Kind passiert?«
»Ja, vielleicht. Aber er war schon 12. In dem Alter passiert einem sowas nicht mehr. Oder doch?« Und fragend schaute er mir in die Augen.
Ich konnte nicht anders, als verlegen zurückzublicken.
»Naja, mir ist das sogar mit 14 noch passiert. Als meine Oma gestorben ist. Da war das Laken häufiger mal nass. Meine Mutter hatte das immer so hingenommen und nie ein Wort dazu gesagt.«
»Naja, das ist dann doch ein bisschen was Anderes, oder? Bei dir ist es psychischer Stress gewesen, bei Sven war es der zu tiefe Schlaf. Da gibt es meiner Meinung nach schon einen kleinen Unterschied.«
Dankbar schaute ich ihm in diese haselnussbraunen Augen. Er verspottete mich nicht dafür und das rechnete ich ihm hoch an.
»Helene. Helene Wurzel. Woher kanntest du sie?« Ja, wieder die Frage. Er blieb mir nach wie vor eine Antwort darauf schuldig und ich wusste, dass er sie kannte.
»Kommst du also wieder mit dem Thema, ja?«
»Ja, ich habe dich damals auf dem Friedhof gesehen. Mach mir nichts vor. Du weißt, dass mein Gedächtnis überdurchschnittlich gut funktioniert.«
»Also schön, wie du willst. Sie war meine Klavierlehrerin.«
»Ha, wusste ich es doch. Aber ein bisschen merkwürdig ist es schon, zu der Beerdigung der Klavierlehrerin zu fahren und ihr noch Tränen nachzuweinen, findest du nicht auch?«
»Ja, das mag bei einer normalen Klavierlehrerin stimmen. Aber sie war mehr als das. Sie war für mich wie eine Oma, die ich nie hatte und eine Mutter, die ich um Rat fragen konnte. Mein Vater war selten Zuhause und das ist er ja immer noch. Mit ihr konnte ich über alles reden. Sie hatte immer ein offenes Ohr für mich. Sie wusste zum Beispiel als erste, dass ich schwul war. Und sie erzählte mir von einem Enkel, ihrem „kleinen Prinzen“, der ziemlich gut zu mir passen würde, wie sie fand. Und da hatte sie ja nicht ganz Unrecht, meinst du nicht auch?«, fragte er mit einem Zwinkern.
»Ja, da hatte sie recht. Sie hatte also indirekt dafür gesorgt, dass wir zusammenkamen. Und jetzt weiß ich sogar, was sie davon gehalten hätte, wenn ich mich vor ihr geoutet hätte. Sie hätte es okay gefunden, mich sogar dabei unterstützt. Aber was Anderes hätte ich von ihr auch nicht erwartet.«
»Sie war eine großartige Frau.«
»Ja, das war sie.«