Kapitel 4 & 5 von „Liam und die Hilfe von oben“ jetzt verfügbar

Du möchtest mal wieder eine schöne und herzerwärmende Geschichte lesen, vielleicht auch mal fernab des ABDL-Genres? Dann schau dir doch mal meine neue Geschichte "Liam und die Hilfe von oben" an. Frisch upgedatet mit Kapitel 4 und 5. Viel Spaß beim Lesen!

Liam und die Hilfe von oben

Verzweiflung

Am nächsten Tag versuchte Liam mich wieder in der Aula zu sprechen, aber ich wies ihn ab. Ich wollte momentan nicht mit ihm reden, zu sehr hatte mich der Zorn in seiner Stimme erschreckt. Er konnte sich nicht zügeln, kam ich zum Schluss. Vor einer Woche bei Sven, jetzt mir gegenüber. Was, wenn er auch mir handgreiflich gegenüber werden könnte? Das wollte ich nicht riskieren. Zumindest nicht solange unsere Gefühle noch derart angespannt sind.
Im zweiten Block klopfte es plötzlich an der Tür zu unserem Raum und Direktor Schütter öffnete.
»Liam. Jonas. Kommt bitte in mein Büro«, forderte er und mit zittrigen Knien stand ich auf. Was war jetzt? Wollte er erneut über unser Betragen von letzter Woche sprechen? Aber wir hatten doch unsere Strafe abgesessen. Wollte er uns zusätzlich Nachsitzen oder Derartiges reindrücken?
Wir folgten ihm nach unten über die große Treppe in den Eingangsbereich und wandten uns zum Sekretariat. Als wir das Büro betraten, standen uns zwei uniformierte Polizeibeamte gegenüber.
»Liam? Jonas? Ich bin Oberkommissar Prütter und mein Kollege ist Kommissar Schulz. Bitte, setzt euch.« Er zeigte auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch und wir ließen uns nieder. Hatten wir etwas verbrochen? Ist Liam etwa zu schnell mit seinem Roller gefahren? Aber das ging doch gar nicht, schließlich war es auf 45 km/h gedrosselt. Oder…?
»Es geht um euren Freund Tom. Wir haben leider keine guten Nachrichten für euch. Wir haben ihn gestern in einem Waldgebiet gefunden. Er lag dort bereits einige Stunden. Es wurde auf ihn eingestochen, doch mehr haben wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht herausfinden können.« Nach seinem dritten Satz hatte ich bereits abgeschaltet. Alles drehte sich und mir wurde speiübel. Ich registrierte die Worte, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Sie hatten den falschen. Den sie gefunden haben, war nicht Tom. Das konnte nicht sein. Tom lebt, ganz sicher.
»NEIN!« Das war nicht ich, von Liam kam der Aufschrei. Es war keine Wut in diesem einen Wort, kein Zorn wie noch gestern in unserem Streitgespräch. Es war pure Verzweiflung und Unglaube. »Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das ist nicht Tom, den sie da gefunden haben. Bestimmt nicht«, sprach er das aus, was ich gedacht hatte.
»Leider ist das so, mein Junge. Es tut mir sehr leid.«
Ich saß da und erneut geriet meine Welt ins Wanken. Die zweite geliebte Person in meinem Umkreis, die mich allein lässt. Ich bin gerade erst über meine Oma hinweg, jetzt Tom. Nein. Nein. Nein.
Mein Blick verschwamm, heiße Tränen rannen mir über das Gesicht. Ich zog die Nase hoch und blickte zu Liam. Auch seine Augen füllten sich mit Tränen und sofort war der Streit zwischen uns vergessen. Ich musste mich einfach an ihm festhalten, ihn drücken, ihn nie wieder loslassen. Ich war verzweifelt und stellte mir gleichzeitig die Frage, was in meinem Leben schief lief, dass mir enge Personen entrissen wurden. Bei meiner Oma war es eine Krankheit, bei Tom war es kaltblütiger Mord. Warum? Welche Gründe gab es dafür? Und immer wieder kam mir der Gedanke, dass ich daran Schuld war. Das sein Tod auf mein Konto ging. Hätte ich ihn nicht gefragt, ob er schwul sei, wäre er nicht so ausgerastet und davongeeilt. Er würde noch leben. Er wäre nie weggerannt und in die Arme eines Mörders gelaufen. Er würde jetzt in der Schule in Rädigke sitzen und sich langweilen, wie es jeder normale Schüler tut.
Ich schluchzte auf und grub meine Finger fest in Liams Rücken.
Es klopfte zaghaft an der Tür und meine Mutter betrat nach dem „Herein“ von Schütter das Büro. Als sie mich in Liams Armen liegen sah, zerbrach es ihr das Herz. Sie kam zu mir herüber und beugte sich zu mir. Ich schloss sie in die Umarmung ein und gemeinsam ließen wir den Gefühlen freien Lauf.

Zwei Wochen später stand ich erneut in meinen schwarzen Klamotten auf dem Friedhof, auf dem nur wenige Meter entfernt meine Oma vor zwei Monaten beerdigt wurde. Ich stand an einem etwas kleineren Grab, dahinter zierte ein kleiner Grabstein die Stelle, an der Tom Ehle seine letzte Ruhe finden sollte.

Tom Ehle
*11.08.2003 – †26.08.2018

Gütiger Sohn, geliebter Freund
Du gingst viel zu früh.
Ruhe in Frieden

Bei dem Anblick und den Worten drehte sich mir der Magen um und wieder traten die Tränen siedend heiß hervor. Liam hatte mir einen Arm um die Schultern gelegt und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Ich umschloss mit meinem Arm seine Hüfte.
Neben uns standen Toms Eltern, die sich fest umklammerten. Neben der Mutter stand Markus, der Vater von Liam und tätschelte seiner Schwester den Arm. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass es das erste Mal war, dass ich ihn sah. Zuvor hatte ich ihn nur auf Bildern gesehen.
Neben mir standen meine Eltern und auch sie mussten mit den Tränen kämpfen. Sie kannten ihn so lange wie ich und er war für sie beinahe wie ihr eigener Sohn geworden. Meine Schwester stand neben meinem Vater und schaute bedrückt auf ihre Schuhe. Sie hatte nie viel für ihn übrig, mochte ihn nicht sonderlich. Dennoch hatte sie sein Tod schockiert, immerhin war er wie ein zweiter, nerviger Bruder. Sarah stand in etwas Entfernung zu Markus Vater. Auch sie hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht und man sah, dass es reichlich nass war.
Was hatte Tom nur so bedrückt? Waren es ebenfalls Gedanken über seine Sexualität? Wieso sonst hätte er so überreagieren sollen? War er vielleicht heimlich in mich verschossen und war enttäuscht, dass ich mich auf Liam eingelassen hatte? Ich ihm keine Chance gegeben hatte? Alles Fragen, die ich ihm nun nicht mehr stellen konnte, auf die ich keine Antwort mehr erhalten würde.
Die Beerdigung endete mit einem Geschwafel des Priesters, der irgendetwas von Gottes Gnade und die Gründe eines Todes laberte. Gottes Plan, so sagte er, wäre unergründlich. Zum Kotzen.
»Ist es wirklich Gottes Plan, einen vierzehnjährigen brutal ermorden zu lassen, vorher noch schön durchrammeln lassen von einem Psychopathen, dem es gefällt, kleine Kinder zu missbrauchen? Ist es fair, ihn in so jungen Jahren aus den Händen seiner Familie, seiner Freunde zu reißen? Ist es das? Wenn das wirklich Gottes Plan ist, dann ist er ein mieser Tyrann und verdient es nicht, dass wir an ihn glauben.« Das warf Liam dem Priester an den Kopf. Seine Augen waren nur noch Schlitze und Tränen rannen ihm über das Gesicht. Doch nun wischte er sie nicht mehr weg. Ihm war egal, was man von ihm hielt. Ihm schien alles egal. Ich verstand ihn, ich fühlte ähnlich. Nur war ich respektvoll genug, das nicht am Grab desjenigen rauszulassen, den wir gerade verloren hatten.
Ich nahm Liam an der Hand und führte ihn weg von dem Loch, weg von all den Leuten, die ihn teils wütend, teils verblüfft anstarrten. Wir verließen den Friedhof und ich stellte ihn an das Auto, mit dem wir hergefahren waren.
»Ich hab doch recht, oder? Was sagst du, Jonas?«
»Ja, du hast recht. Mit allem. Aber musste das vor dem Grab passieren?« Ich stellte mich vor ihm hin und hielt seine Hände. Eine vorbeilaufende Ergraute ließ Luft durch zusammengebissene Zähne strömen und murmelte etwas über „dieses Pack“. Wir ignorierten sie.
»Es hat mich nur so wütend gemacht. Wie soll es bitte Gottes Plan sein, einen Mörder auf ein Kind loszulassen?! Das klingt alles überhaupt nicht nach Gott, der gütig und gnadenvoll sein soll. Das ist einfach alles so unfair.«
»Ja, ist es«, schloss ich seinen Gedankengang. »Das ist es.«

Meine Eltern sprachen nach der Beerdigung mit Markus ab, dass Liam erstmal zu uns nach Hause kommen sollte. Sie spürten, dass er mich brauchen würde und dass ich gleichzeitig ihn brauchen würde.
Wir saßen bald darauf auf dem Fußboden meines Zimmers. Wir versuchten uns mit einer Partie Schach abzulenken, immerhin hatten wir dann viel Zeit zum Überlegen.
Meine Eltern schauten immer mal wieder herein, offiziell um uns Essen und Trinken zu bringen, aber ich wusste, dass sie natürlich auch nach unserem Befinden schauten.
Um 21 Uhr klappten wir das Schachbrett zu und verschwanden im Bett. Ich drehte mich mit dem Gesicht zum Zimmer, Liam umschlang mich von hinten. In der Position verharrend schliefen wir ein.