Kapitel 4 & 5 von „Liam und die Hilfe von oben“ jetzt verfügbar

Du möchtest mal wieder eine schöne und herzerwärmende Geschichte lesen, vielleicht auch mal fernab des ABDL-Genres? Dann schau dir doch mal meine neue Geschichte "Liam und die Hilfe von oben" an. Frisch upgedatet mit Kapitel 4 und 5. Viel Spaß beim Lesen!

Liam und die Hilfe von oben

Gefühlschaos

Nein.
Meine erste, gedankliche Reaktion auf diese Aufgabe.
Nein, das kann sie mir nicht antun. Gehetzt blickte ich erst zu Liam, in seine vor Ruhe strotzenden Augen und dann zu Tom. Nein, ich würde ihn nicht küssen. Ich wollte nicht. Ich wollte nicht, dass die Gefühle wieder aufkamen, die ich gestern in seiner Nähe gespürt hatte.
»Wir müssen das nicht tun, Jonas. Es zwingt uns niemand dazu«, versuchte mich Liam zu beruhigen.
»Naja, so ganz stimmt das nicht. Ich zwinge euch dazu. Also, hop hop. Wir haben nicht ewig Zeit.« Hatte ich vorhin noch gesagt, dass mir Sarah direkt sympathisch war? Eine glatte Lüge.
Liam kam langsam auf mich zu und ich reckte den Hals zu ihm. Er stand vor mir und ich saß immer noch im Schreibtischstuhl, unfähig mich zu bewegen. Er kniete sich zu mir herunter und unsere Gesichter waren nur noch eine Handbreit voneinander entfernt. Er schaute mir tief in die Augen und auch ich konnte nicht anders, als den Blick zu erwidern. Der Blick fragte um Erlaubnis und ich ließ meinen Kopf kurz nach vorn rucken, so schwach, dass es niemand sonst wahrnehmen konnte außer Liam.
Er legte seine Hände auf die Armlehne des Stuhls und kam mir mit seinem Gesicht immer näher. Ich war nach wie vor unfähig mich zu bewegen und ließ es einfach geschehen. Er legte seine Lippen auf meine und ein Feuerwerk explodierte in meinen Eingeweiden. Das Gefühl traf mich mit einer Wucht, die ich nicht erwartet hatte. Ich schreckte zurück und entfernte meinen Mund von seinem, schneller als mir lieb war. Ich wollte, dass der Kuss ewig wahrte und doch wollte ich ihn schnell enden lassen.
»Buuh, das nennt ihr einen Kuss? Der war ja nicht mal eine Sekunde lang. Moment, ich zeige euch mal, wie das geht.« Und plötzlich sprang sie vom Bett, beugte sich genau wie Liam zuvor zu mir herunter, hielt meinen Kopf in ihren ungewöhnlich starken Händen und knutschte mich wie wild ab. Erst begnügte sie sich noch mit meinem Mund, dann fuhr sie mein Gesicht entlang und endete schließlich bei meinem Hals.
»Habt ihr das gesehen? So macht man das. Ihr seid echte Weicheier.« Sie lachte und ließ sich wieder aufs Bett fallen.
So schräg ihre Aktion auch war, zeigte sie mir doch, dass ich bei ihr keinerlei Gefühle hatte. In mir regte sich nichts, als sie ihre Lippen auf meine legte. Doch bei Liam war das anders. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde und doch hatte ich das Gefühl gehabt zu schweben. Ich hasste mich für den Gedanken. Ich war nicht schwul. Ich wollte nicht schwul sein. Ich hatte vor, Karriere zu machen, irgendwann eine Frau zu finden und meine eigene kleine Familie zu gründen. Wäre ich schwul, könnte ich das vergessen. Nun, die Karriere könnte ich trotzdem verfolgen, aber Frau und Kinder?
Ich wurde je aus meinen Gedanken gerissen, als Liam das Spiel für beendet erklärte. Er musste gespürt haben, wie es in mir aussah und hielt es für besser, dass wir damit aufhörten.
»Du bist ja so ein Spielverderber, Liam. Ich denke, einigen von uns hat das doch ganz gut gefallen.«
Ich grinste. Ja, irgendwie hatte es mir gefallen.

Pünktlich um 20 Uhr löste Liam die kleine Homeparty auf und brachte mich wieder nach Hause.
»Kommst du morgen wieder -«
»Nein«, antwortete ich vielleicht etwas zu harsch.
»Hm, okay. Schade. Wenn es wegen vorhin -«
»Nein, darum geht es nicht. Ich muss noch einiges für die Schule tun, sonst komme ich mit dem Stoff nicht mehr hinterher.« Ich spürte, dass Liam mir meine Lüge nicht glaubte, aber er fragte nicht mehr nach.
»Okay, dann morgen nicht. Vielleicht Donnerstag?«
»Ja, vielleicht Donnerstag. Ich melde mich bei dir.« Damit drehte ich mich um und ging ins Haus, ohne mich erneut umzusehen.

Am nächsten Tag ging ich nicht ans Handy, wenn mich Liam anrief und antwortete auch auf keine seiner WhatsApp Nachrichten. Ich wollte einfach nicht über den gestrigen Tag reden. Ich wollte mir zunächst selbst über meine Gefühle klar werden.
Am Abend klingelte wieder mein Handy, allerdings anders, als wenn ich eine WhatsApp Nachricht oder einen Anruf erhielt. Es war das Zeichen für eine SMS. SMS? Wer schreibt sowas heute noch?
Ich zückte genervt mein Handy, weil ich davon ausging, dass sie wieder von Liam war, doch sie kam von meinem Handyprovider:

Herzlichen Glückwunsch, Herr Jonas Kraus. Sie sind einer von zehn anderen glücklichen Gewinnern, die Vorpremierekarten zum neuen „The Nun“ Film gewonnen haben. Zwei Karten für Sie und Ihre Begleitung. Weitere Informationen und die Karten entnehmen Sie der E-Mail, die wir Ihnen zugesendet haben.

Viel Spaß und einen schönen Abend wünscht Ihnen
Ihre Telekom

Überrascht schloss ich die Nachricht und öffnete mein E-Mail Postfach. Tatsächlich hatte ich eine E-Mail von meinem Provider erhalten. Der Film sollte morgen um 17 Uhr starten, die Karten konnte ich entweder ausdrucken oder digital vorzeigen. Jetzt blieb nur noch die Frage offen, wen ich dazu mitnehmen sollte. Hätte ich Liam mitnehmen sollen? Ich weiß es nicht, ich entschied mich jedenfalls dagegen, weil in mir ein anderer Plan reifte. Ich wollte mich jemanden offenbaren und das sollte niemand anderes sein als meine Mum.
Ich lief ins Wohnzimmer und traf sie wie immer auf der Couch vor dem laufenden Fernseher. Sie beachtete ihn aber nicht weiter, sondern studierte etwas vor ihrem Laptop.
»Du Mum? Hättest du Lust morgen mit mir in den neuen The Nun Film zu gehen? Ich habe Freikarten für die Vorpremiere gewonnen!«
»Du hast mal was gewonnen. Na herzlichen Glückwunsch. Wir spielen seit einem gefühlten Jahrhundert Lotto und hatten bisher nicht mehr als einen Vierer. Naja – wie dem auch sei. Wann soll der Film denn starten?«
»Um 17 Uhr. Na, was sagst du?« Gespannt schaute ich ihr in die Augen und wartete auf die Antwort, für die sie sich für meinen Geschmack etwas zu viel Zeit lies.
»Ja, warum eigentlich nicht. Ich war schon lange nicht mehr aus und mit dir schon gar nicht. Oh Gott, was zieht man denn zu solch einem Anlass an?«
Panisch lief sie ins Schlafzimmer und durchwühlte ihren Kleiderschrank. Typisch meine Mutter. Dabei sollte es doch nur ein normaler Kinogang werden. Erwartete sie, berühmten Personen über den Weg zu laufen?
Ich ging wieder in mein Zimmer und überlegte, wie ich das Gespräch morgen mit meiner Mutter anfangen sollte. Sollte ich sie irgendwie darauf vorbereiten oder gerade heraus sagen, was ich fühlte? Würde ich sie damit überfordern? Und wie würde sie reagieren?
Ich malte mir alle möglichen Szenarien aus, wie der Abend enden könnte, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf glitt.

Endlich war es soweit. Die Vorpremiere sollte im Sony Center stattfinden und ich googelte zuvor, wie wir dahin kommen sollten. Liam hatte mich den ganzen Tag über noch versucht anzurufen, aber ich habe ihn weiterhin konsequent ignoriert, obwohl er ja vor hatte sich heute mit mir zu treffen. Nach seinem 47igsten Anruf tat es mir dann doch irgendwie leid, dass ich ihn derart im Dunkeln stehen ließ, also schrieb ich ihm kurz eine SMS – nicht WhatsApp, weil ich sonst seine ganzen Nachrichten hätte lesen müssen und die wollte ich mir für später aufheben.

Sorry, fahre mit meiner Mum ins Kino. Wird nix mit heute. Wir sehen uns.

War das zu distanziert? Keine Ahnung. Ich machte mir darüber auch keine großen Gedanken mehr, denn die Spannung stieg so langsam und damit auch die Nervosität.
Im Kino angekommen, stellten wir uns an der Snackbar an, um uns Popcorn und etwas zu Trinken zu besorgen – alles inklusive. Das war doch mal nett.
Gerade als wir an der Reihe gewesen wären, stellte sich von links ein hochgewachsener Typ vor mir und bestellte.
»Ähm – Verzeihung? Eigentlich wären wir gerade an der Reihe gewesen?«, maulte ich ihn an. Er drehte sich verwundert um und setzte ein entschuldigendes Gesicht auf.
»Oh, sorry Kleiner. Ich hab dich nicht gesehen. Tut mir aufrichtig leid. Hier, komm vor und deine liebreizende Schwester ebenfalls.« Dabei schaute er meiner Mutter in die Augen, die sofort rot wurde.
»Moment, kenne ich sie nicht irgendwo her?«, fragte ich verblüfft, weil mir seine Stimme so bekannt vorkam.
»Ja, das könnte durchaus sein. Du wirst aber eher den Charakter kennen, dem ich meine Stimme leihe, als mich selbst. Ich heiße Dennis Schmidt-Voß und synchronisiere Ryan Reynolds, der den Deadpool spielt.«
»Abgefahren.« Ich war hin und weg und wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Also bestellten meine Mum und ich zunächst, doch als ich mich wieder umdrehte, um weiter mit dem Synchronsprecher zu plaudern, war der plötzlich verschwunden. Schade aber auch. Erst jetzt fiel mir ein, dass er mir ja meine Mailbox hätte besprechen können. Das wäre cool gekommen, wenn sich Deadpool für meine Abwesenheit entschuldigt hätte. Ob er sich mit uns die Vorpremiere anschauen würde? Dann hätte ich vielleicht noch Zeit, ihn um diesen Gefallen zu bitten.
Meine Mum und ich machten es uns in den hinteren Reihen gemütlich und futterten schon die Hälfte des Popcorns auf, als der Film endlich begann.
»Ähm, Mum. Ich müsste nach dem Film mal mit dir reden.« Sie schwieg einen kurzen Augenblick.
»Willst du mir erzählen, dass du schwul bist?«, kam die Frage, die mich völlig perplex in den Sitz drückte. Ich brabbelte kurz etwas daher und fing dann an zu schweigen, um den Film genießen zu können.

Nach dem Film entdeckte ich Dennis leider nicht mehr, also musste ich meine Hoffnung auf eine Deadpool-Mailbox leider begraben. Doch interessanter sollte sich nun das Gespräch gestalten, dass ich nun wieder aufnehmen wollte.
»Also Mum, was sagst du dazu. Du hattest ja nun knapp zwei Stunden Zeit darüber nachzudenken.«
»Naja, ich habe es schon irgendwie geahnt. Du hast dich immer schon anders benommen, als die anderen Jungs. Und dann hattest du dich so schnell mit diesem Liam abgegeben und trotz der kurzen Zeit scheint er dir ziemlich ans Herz gewachsen zu sein. Da macht man sich als Mutter halt schon so seine Gedanken.«
»Ah, okay. Gut.« Mehr kam von mir nicht, denn einerseits fand ich die Reaktion auf mein ComingOut sehr erleichternd, andererseits gefiel mir die Betonung auf den letzten Satz nicht so. Sie hätte sich Gedanken gemacht. Was sollte das heißen? Was hatte sie sich für Gedanken gemacht? Wollte sie mich mit der Zustimmung meines Vaters aus der Wohnung werfen? Nein, das wahrscheinlich eher nicht. Hatte sie sich Hoffnung auf Enkelkinder gemacht? Nun, dafür hätte sie immer noch Melli.
Wir fuhren schweigend nach Hause und jeder hing währenddessen seinen eigenen Gedanken nach. In meinem Zimmer schnappte ich mir mein Handy und arbeitete den WhatsApp Chat von Liam durch. Im Großen und Ganzen entschuldigte er sich hundertfach für den Kuss und ganz besonders für Sarah, die oft nicht merkte, wann sie eine Grenze überschritt. Auch dass er mich nicht als Freund verlieren wollte, schrieb er mir immer wieder. Das wollte ich auch nicht, stellte ich fest. Und ich wollte auch mehr. Ich wollte mehr, als nur ein Freund sein. Ich wollte sein Freund sein, das wurde mir nun bewusst.
Ich erinnerte mich an sein verschmitztes Grinsen, dass er mir immer zuwarf. Seine warmen, rehbraunen Augen. Seine strubbelige Frisur, die nie das machte, was er von ihr verlangte. Seine kleinen Muttermale oberhalb des Mundes und der Schläfe. Seine Art, mit mir zu reden. Seine Offenheit. Seine offenen Ohren. Das Gefühl, dass er in mir auslöste, wenn er mich berührte. All das gefiel mir und ich wollte es für immer haben.
Scheiß auf Konventionen. Wenn es anderen nicht passt, dass wir kein „normales“ Paar sind, wollte ich nichts mit denen zu tun haben. Ich wollte glücklich werden und mein Glück fand ich offenbar in Liam.